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Scheidung bleibt für Frauen oft eine Armutsfalle

Jüngste Urteile des Bundesgerichts und die Revision des Scheidungsrechts passen die Unterhaltsregelung der Lebensrealität an. Eine Heirat ist für die Frau keine Lebensversicherung mehr, wie neuste Bundesgerichtsurteile zeigen.



Jedes Jahr setzen sich in der Schweiz über 4000 Frauen dem Risiko aus, im Pensionsalter in die Altersarmut abzugleiten. Diese Aussage lässt sich mit der folgenden Überschlagsrechnung untermauern: In den vergangenen zehn Jahren liessen sich in der Schweiz jährlich rund 16’500 Ehepaare scheiden, und die Statistik zeigt, dass jede vierte geschiedene Rentnerin in der Schweiz Ergänzungsleistungen bezieht. Viele dieser Frauen wurden noch unter dem bis zum Jahr 2000 geltenden alten Scheidungsrecht geschieden, bevor der Vorsorgeausgleich (Aufteilung des während der Ehe angesparten Pensionskassenguthabens) sowie der Vorsorgeunterhalt (Unterhaltszahlungen zum Ausgleich von Vorsorgelücken nach der Scheidung) eingeführt wurde. Grundsätzlich sollte sich die finanzielle Lage künftiger geschiedener Rentnerinnen aufgrund dieser Ausgleichsmechanismen schrittweise verbessern. «Unsere Analyse zeigt aber, dass dieser Gender-PensionGap in absehbarer Zeit trotzdem nicht verschwinden wird», sagt Andreas Christen, Studienautor und Senior Researcher Vorsorge bei Swiss Life Schweiz. Christen weist darauf hin, dass es just bei der Publikation der Studie im März ILLUSTRATION: JOANA KELEN / NZZ 2021 zu einem wegweisenden Bundesgerichtsurteil kam. Neu gilt der Einzelprüfungsfall statt der bis anhin geltenden Faustregeln. Eine davon lautete etwa, dass eine Frau im Alter von 45, die seit 15 Jahren nicht mehr gearbeitet hat, nach der Scheidung nicht mehr in den Arbeitsmarkt zurückkehren kann und muss. Bereits in den Jahren zuvor kam es zu verschiedenen Anpassungen, nachdem das Scheidungsrecht letztmals 2017 revidiert wurde. So gilt etwa gemäss Art. 122 ZGB, dass der Vorsorgeausgleich zum Zeitpunkt der Scheidungseinreichung erfolgt und nicht bei der effektiven Scheidung. Dazwischen können manchmal mehr als zwei Jahre liegen, in denen die Frau keinen Anspruch mehr auf die Vorsorgeersparnisse ihres Noch-Ehemannes hat. Das Bundesgericht hat auch die «10/16-Regel» durch das «Schulstufenmodell» ersetzt. Früher war die Annahme, dass es einer Frau, deren jüngstes Kind 10 Jahre alt ist, möglich sei, 50% zu arbeiten. Wenn das Nesthäkchen 16-jährig war, wurde eine Vollbeschäftigung zugemutet. Heute gehe man von der Eigenversorgungskapazität der Ehepartner aus, sagt die Anwältin Simone Thöni, Spezialistin für Familienrecht in der Rechtskraft Advokatur. Man müsse begründen, warum eine Vollzeitstelle nicht zumutbar sei. Natürlich ist die Kinderbetreuung weiterhin ein unbestrittener Grund, um nicht voll zu arbeiten. Nach dem Schulstufenmodell ist es dem überwiegend betreuenden Elternteil ab Beginn der Schulpflicht des jüngsten Kindes zumutbar, einer Erwerbstätigkeit von 50% nachzugehen, 80%, wenn es die Oberstufe besucht, und 100% ab dem 16. Altersjahr. Bei einer grossen Kinderschar mit beträchtlichen Altersabständen sehe die Sache anders aus. Das ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Wer lange und zu einem grossen Teil in der Kinderbetreuung engagiert ist, darf höhere Unterhaltszahlungen erwarten, hat aber beim Schritt zurück in die Arbeitswelt die schlechteren Karten. «Die jüngsten Praxisänderungen drücken vor allem aus: Heiraten ist keine Lebensversicherung mehr», sagt die Anwältin Thöni. Es sei auch eine Anpassung an die Lebensrealität - zumindest im städtischen Raum. Trotz Kindern hohes Pensum Der Vorsorgeunterhalt soll den theoretischen Leistungsverlust decken, der durch die Scheidung entsteht. Oft ist aber aufseiten des Ehepartners zu wenig Geld vorhanden, um einen angemessenen Unterhalt zu zahlen. Dieser soll in erster Linie dem Unterhalt der Kinder dienen, in zweiter Linie jenem des betreuenden Ex-Ehepartners und erst zuletzt dessen Vorsorge ermöglichen. Nur der Kindesunterhalt wird als separate Zahl ausgewiesen, da er sich mit dem fortschreitenden Alter der Kinder auch reduziert. Der Unterhalt für den Partner und dessen Vorsorgeanteil wird nicht getrennt ausgewiesen. Nur wenn ein begründetes Urteil erfolgt, werden diese Beträge erläutert. Selten kommt es auch zur «überhälftigen» Teilung. Damit kann man etwa den zukünftigen Nachteil in der Vorsorge des einen Partners mit einem höheren Anteil am Vorsorgeguthaben ausgleichen. «In der Regel versucht man dieses Ungleichgewicht aber mit dem Vorsorgeunterhalt auszugleichen», sagt Thöni. Man könne jedoch nicht mehr Geld verteilen, als bisherige Einnahmen zur Verfügung stünden. Ein Anhaltspunkt für die Höhe des Vorsorgeunterhalts könne etwa sein, wie viel Geld die Frau in die dritte Säule hätte einzahlen können, wenn die Ehe Bestand gehabt hätte. Der Mann kann sich - falls die Ehe in Unfrieden auseinandergeht - nicht einfach für ein tieferes Arbeitspensum entscheiden, um der Ex-Partnerin weniger zahlen zu müssen. Die Berechnungsgrundlage bleibt das Einkommen vor der Scheidung, sofern diese Leistung weiterhin möglich und zumutbar ist. Der Gender-Pension-Gap dürfte sich gemäss der Studie von Swiss Life trotz der neuen Praxis zwar reduzieren, aber nicht verschwinden. Das Verbesserungspotenzial wäre hoch: Die Studie des Versicherers zeigt, dass 50% der Frauen, die Unterhalt erhalten, es auch schaffen, für das Alter zu sparen. In der Gruppe ohne Unterhalt schafft dies nur ein Viertel. Das wirksamste Mittel, um nach der Scheidung nicht in die Armutsfalle zu tappen, ist gemäss Christen, auch während der Ehe und des Heranwachsens der Kinder in einem möglichst hohen Pensum einer Beschäftigung nachzugehen. Christen räumt ein, dass das je nach Beruf, Familiensituation und Möglichkeiten der Kinderbetreuung oft nicht möglich ist. Frühzeitig reagieren entspannter sein können viele Frauen, wenn sie während der Scheidung ihr Augenmerk auch auf die Altersvorsorge richten. Gemäss Erhebung der Swiss Life machten dies aber nur rund ein Fünftel der Frauen, die sich vom Partner trennten. «Während der Scheidung ist es meist zu spät für die Frau, sich um die Vorsorge zu kümmern», sagt Thöni. Sinnvoll wäre es, sich schon viel früher darüber Gedanken zu machen und beispielsweise die Beitragslücke in der Pensionskasse mit einer Einzahlung zu reduzieren. Eine Möglichkeit, die Ehepartnerin zu schützen, wäre es, frühzeitig in der 3. Säule (auf den Namen der Frau) zu sparen. Aber auch hier gilt: Bessergestellte bekommen in der Scheidung genug mit auf den Weg. Bei denjenigen, wo das Geld knapp ist und der Unterhalt vielleicht gar nicht bezahlt wird, dürften auch bereits vorher die Mittel für die Säule 3a fehlen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch, dass Männer nach der Scheidung einen grösseren Teil der Kinderbetreuung übernehmen - die Möglichkeit wird ihnen aber öfter abgesprochen. Das gemeinsame Sorgerecht ist mittlerweile die Regel und wird nur in begründeten Ausnahmen nicht angewendet. Seit 2017 prüfen die Behörden auf Verlangen eines Elternteils bei einer Scheidung die alternierende Obhut. Das bedeutet, dass Kinder abwechslungsweise bei Vater und Mutter wohnen. Dies ist gemäss Thöni auch möglich, wenn bis zur Scheidung der Mann 100% arbeitete und die Frau nur ein kleines Pensum hatte. Theoretisch ermöglicht dieses Modell eine gleichberechtigte Aufteilung von Familie und Beruf für Frau und Mann. Laut dem Dachverband der Schweizer Männer- und Väterorganisationen kommt es jedoch nur in seltenen Fällen zu dieser Lösung. Häufig setzten Gerichte bei Trennungen ein traditionelles Familienmodell durch. Zudem ist es für berufstätige Männer oft schwierig, auf ein 50%-Pensum zu wechseln.


Quelle: Neue Zürcher Zeitung, https://www.nzz.ch/

Datum: 19.04.2021

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